Vortrag von Prof. Dr. Christof Dipper (emer. TU Darmstadt) im Rahmen der Europawoche der Lichtenbergschule Darmstadt zum Thema „Wie Kriege enden: 1814 - 1918 - 1945“
Unsere heutige Leitfrage gilt der Frage nach den Ursachen für die unterschiedlichen Arten, wie die Kriege 1814, 1918 und 1945 geendet haben. Denn es gibt ja eben evidente Unterschiede und die Frage ist, woher kommen sie? Ich beginne mit Überlegungen, woher sie nicht kommen. Ein Grund ist offenkundig: Nicht, weil die Menschen sich geändert haben. Sie sind zwischen 1814 und 1945 weder besser noch schlechter geworden. Historiker sind übrigens für diese Fragen gar nicht die geeigneten Auskunftspersonen, aber das ist auf jeden Fall klar und die allgemeine Erfahrung lehrt das ebenfalls: Die Menschen waren 1814 nicht viel anders konditioniert als 1914: Mord war 1814 so verboten wie 1945, ein guter Ehemann zu sein, galt 1814 ebenso wie 1945 als vorbildlich. Also an den Menschen liegt es nicht.
Die Unterschiede haben andere Gründe. Der Letztgrund liegt in den politischen Verhältnissen und ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Auf sie gehe ich gleich noch näher ein, weil sie sich charakteristischerweise ändern, aber es ändert sich, dies vorweg, eines nicht, nämlich die gemeinsame Kriegsursache: Hegemonie über Europa. Sie zu bekämpfen ist in allen drei Kriegen der entscheidende Grund.
Europa ist weltweit gesehen ein Sonderfall. Der Kontinent begreift sich seit Jahrtausenden - mindestens seit zwei Jahrtausenden - als kulturelle Einheit. Und dem wurde auch politisch Rechnung getragen: im Mittelalter durch die Reichsidee, buchstäblich gekrönt durch den Kaiser; die "deutschen" Kaiser standen diesem Reich vor. Es nannte sich Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, das heißt, man sah sich in der Tradition des Römischen Reiches. Die Reichsidee - es gab nur einen Kaiser in Europa - , hat wesentlich dafür gesorgt, dass Europa eine kulturelle Einheit unter der zumindest ideellen Oberhoheit der Reichskrone gewesen ist.
Diese Einheit ist im Laufe der Frühen Neuzeit zerbrochen. Seit, um es kurz zu machen, 1648 haben wir etwas Anderes an dieser Stelle, nämlich ein europäisches Staatensystem. Das heißt, die Großmächte haben sich darauf geeinigt, wer Großmacht ist. Im Laufe der Zeit änderte sich das natürlich und deswegen ist Dynamik in diesem System, aber im Prinzip jedenfalls hat man sich 1648 darauf geeinigt, dass es in Europa künftig keinen Hegemon mehr wie den deutschen Kaiser gibt. Der Kaiser residierte weiterhin in Wien und gestaltete Europa weiterhin mit, aber nur noch als einer unter Gleichen, allenfalls als ‚Ehrenvorsitzender‘. 1649 entstand darum ein System der Mächte, die sich gegenseitig in Schach und das System stabil zu halten versuchen. Dagegen wird nun immer wieder - Napoleon ist eben eines dieser Beispiele - opponiert, immer wieder wird eine Hegemonialherrschaft aufzurichten versucht und die auf diese Weise Angegriffenen tun sich zusammen und bekämpfen den Hegemon. So auch 1814 mit Erfolg. Und dasselbe wiederholt sich im 20. Jahrhundert zweimal.
So viel zur Kontinuität, die im europäischen Mächtesystem besteht, das verhindern soll, dass ein Staat zum Hegemon aufsteigt. Und nun zurück zu den Unterschieden, zu den politischen Verhältnissen und ihren gesellschaftlichen Grundlagen. Hierbei geht es vor allem um den Nationalstaat. Das ist nicht trivial und auch nicht zufällig.
Der Nationalstaat ist eine besondere Form von Staat, er ist im 19. Jahrhundert in Europa, wenn man so will, erfunden, entwickelt worden, d.h. er war die Folge einer ganzen Reihe von Vorgängen - einer davon war natürlich die Französische Revolution -, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann. (In Klammern sei bemerkt, dass er sich zum Exportartikel entwickelt, hat, mittlerweile ist der Nationalstaat weltweit zu finden, denn es gibt keinen Staat auf der Welt, der sich nicht als Nationalstaat empfindet. Das Problem ist nur, dass außerhalb Europas vielfach noch weniger die Randbedingungen existieren, die die Nationalstaaten zu einem friedlichen Miteinander befähigen, als schon in Europa, wo er zusammen mit den Mechanismen des friedlichen Ausgleichs ursprünglich entwickelt worden ist. Das ist der ganz triviale Grund, warum es so Unfrieden gibt in der Welt.)
Zurück zum Nationalstaat. Er bestimmt jedenfalls uneingeschränkt die Epoche zwischen 1814 und 1945, da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Und dieser Nationalstaat hat drei wesentliche Merkmale, ohne die es keinen Nationalstaat gibt und die gleichzeitig für die ungeheure Dynamik sorgen, der dieses Zeitalter ausgesetzt ist. Der erste Faktor ist, die, wie die Historiker seit einiger Zeit sagen, "erfundene Tradition", in die sich diese Nationalstaaten stellen. Im 19. Jahrhundert entsteht etwas Neues, aber das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Geschichtswissenschaft, der Historismus wird im 19. Jahrhundert überhaupt erst wirklich zu einer die gesamte Gesellschaft und die Köpfe der Menschen durchdringenden Idee, also muss man alles historisch begründen, auch so etwas Neues wie den Nationalstaat. Also wird in der Vergangenheit etwas gesucht - und wer sucht, der findet natürlich. Die erfundene Tradition besteht in einer gemeinsamen Abstammung. Die Deutschen behaupten, ohne mit der Wimper zu zucken, sie stammten von den Germanen ab und die Germanen seien die Frühformen der Deutschen. Die Italiener sagen: Wir stammen von den Römern ab. Die Franzosen sagen: Wir stammen nicht von allen Germanen ab, sondern von den Franken. Die Engländer sagen: Wir stammen von angelsächsischen Eroberern ab usw. usw. Das ist historisch alles völlig unhaltbar, aber das spielt gar keine Rolle, denn es wurde geglaubt und dadurch handlungsleitend.
So viel zum ersten Faktor, zur gemeinsamen Abstammung.
Zweitens, die gemeinsame Sprache. Einen Nationalstaat hat es vor 1800 im Grunde genommen nicht gegeben, nicht geben können. Im 19. Jahrhundert kommt dieses Homogenitätsbedürfnis dazu, das dem Nationalstaat nicht nur eine geschichtliche Tradition zusprach, sondern auch eine einheitliche, eben die Nationalsprache mit der Folge, dass andere Sprachen unterdrückt, ausgerottet wurden. Das Sorbische, nur als Beispiel, hat sich bei uns unter sehr widrigen Umständen in Restbeständen erhalten, aber das Dänische, das Polnische, das Französische etc. ist ausgemerzt worden oder es hat sich durch Grenzverschiebungen mittlerweile erledigt. Blicken Sie nur nach dem gegenwärtigen Spanien, diesen Zentralstaat alter Ordnung, der als Nationalstaat damit zu kämpfen hat, dass es zwei Regionen gibt, mindestens zwei, die sagen: Wir sind etwas Eigenes, wir haben eine eigene Sprache und deswegen auch eine eigene Kultur. Ich meine natürlich Katalonien und das Baskenland. Das sind Sprengsätze, die man überall im 19. Jahrhundert versucht hat zu entschärfen. Den Spaniern ist es nicht gelungen und sie haben jetzt folglich das Problem.
Also, gemeinsame Sprache, gemeinsame Abstammung und dann auch noch gemeinsame Religion. Die Deutschen sind im 19. Jahrhundert evangelisch. Dass es da Katholiken gibt, nun ja, aber ansich ist der ‘richtige’ Deutsche evangelisch. Der ‘richtige’ Engländer ist anglikanisch, deswegen hatten die Iren ein Problem usw. usw. Kurz: Die Einheit von Abstammung, von Sprache und Religion ist der erste Faktor -- alles zusammen die Tradition. Die zweite ist die Partizipation. Der Nationalstaat, und das machte ihn so unendlich modern und attraktiv, verhieß Partizipation für alle Bürger. Nur im Nationalstaat gibt es ein Parlament, ein Mitspracherecht, eine Verfassung, es gibt Wahlen, Parteien als logische Konsequenzen und es gibt eine Öffentlichkeit mit den damit verbundenen Rechten, damit Öffentlichkeit überhaupt existieren kann. Alle diese Dinge gibt es vor 1800 gar nicht oder nur in ganz rudimentären Formen und das machte ihn allgemein so attraktiv, weswegen sich dieser Nationalstaat im 19. Jahrhundert eben allgemein peu à peu durchgesetzt hat. Also Partizipation, Verfassung, Parlament, Öffentlichkeit.
Und nun das Dritte. Eine noch relativ junge wissenschaftliche Erkenntnis ist - und das bringt den Unfrieden - Aggression. Aggression gehört zum Nationalstaat. Jeder Nationalstaat bedarf der Feinde, um sich überhaupt abgrenzen zu können, um sich als Gemeinschaft formieren und entsprechend handeln zu können. Nur wenn der Druck groß ist, funktioniert ein solcher Nationalstaat als Staat. Es gibt natürlich andere Formen von Staaten, aber als Nationalstaat funktioniert er jedenfalls nur dank dieses Außendrucks. Und deswegen gibt es keinen, aber wirklich keinen Staat in Europa, der ohne irgendeinen gewaltsamen Zusammenhang, ohne irgendeinen Krieg entstanden ist. Selbst so ein friedlicher Staat wie Norwegen brauchte 1905 ganz kurz gewaltsame Vorgänge, um sich zu separieren, um ein selbständiger Nationalstaat zu werden und sich von Schweden zu lösen. Weil das ohne Blutvergießen geschah, war das sicherlich nicht das beste Beispiel. Nehmen wir Belgien. Diese achso friedliche Nation hat 1830 einen Krieg gegen den eigenen König, er war Niederländer, also einen Bürgerkrieg, eine Revolution entfacht, und diejenigen, welche dann plötzlich Niederländer wurden, galten als nationale Feinde und wurden aus dem Lande hinausgeworfen, insbesondere die holländische Monarchie. Man kann die Liste fortsetzen. Die Italiener haben sich militärisch geeinigt, indem sie die Truppen des Papstes, des neapolitanischen Königs und natürlich die Truppen der Österreicher aus dem Lande geworfen haben. Die Deutschen haben sich geeinigt im Zuge der drei Kriege: 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und dann 1870/71 gegen Frankreich. Polen versuchte sich im 19. Jahrhundert selbständig zu machen. Es hatte es mit drei Gegnern zu tun, mit Deutschland, Österreich und Russland. Serbien hatte es mit umgebenden Mächten zu tun, gegen die es sich durchsetzen wollte und es waren auf der einen Seite die Habsburger, also Österreich, und auf der anderen Seite die Osmanen, also der Sultan. Und so kann man die Liste fortsetzen. Auch so scheinbar alte Nationalstaaten wie die Franzosen, wie die Engländer, wie die Spanier haben ihre Kriege geführt, um im 19. Jahrhundert mithilfe dieser Aggression - wobei diese Absicht jetzt nur im Nachhinein von uns Historikern so gesehen wird, aber das ist der Mechanismus, den wir erkennen können -, um mithilfe dieser Kriege zusammenzuwachsen und festzustellen: Wir sind eine Nation, die sich von ihren
Nachbarn unterscheidet. Selbst die friedlichen Schweizer, fällt mir gerade ein, haben 1847 einen Bürgerkrieg gehabt - die Konservativen gegen die Liberalen - und einen kurzen Feldzug, um aus diesem ganz lockeren Staatenbund einen modernen Bundesstaat zu machen. Kurz: Jeder Staat in Europa und fast jeder außerhalb - Beispiel USA -- verdankt seine Entstehung als Nationalstaat einer Gewaltanwendung. Dass dazu eine Reihe von Großreichen zerschlagen werden mussten, ist gerade nebenbei schon angeklungen, als ich von Polen sprach und von Serbien, denn das Habsburger Reich, das Zarenreich und das Osmanische Reich waren multinationale Reiche und eben keine modernen Staaten und insofern waren sie der natürliche Gegner, nachdem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation schon durch Napoleon zerschlagen worden war. Diese multinationalen Reiche waren das Opfer der werdenden Nationalstaaten, die zerschlagen wurden und deren Kernländer sich in Nationalstaaten verwandeln mussten: aus dem Osmanischen Reich unter Verlust vieler Randterritorien zur Türkei, aus dem Zaren reich unter Verlust vieler Randterritorien zum sowjetischen Russland usw. usw.
Das alles war 1814 noch kaum entwickelt und deswegen sieht hier diese Zeile (Anmerkung: Zeigt auf Präsentation) ein bisschen anders und weniger dramatisch aus; damals waren die Monarchen im Grunde genommen unter sich mit ihren Diplomaten und haben die politischen Rahmenfragen ausgehandelt. Es kommt aber, das ist hier (Anm.: desgl.) natürlich nicht drauf, der sogenannte Völkerfrühling, das heißt, das Erwachen der Nationen im Vormärz, explosionsartig 1848, und daher führt die zweite Jahrhunderthälfte zu vielfachen Konflikten in Europa, die hier nicht näher abgehandelt sind, die aber dazugehören, um das 20. Jahrhundert zu verstehen, weil vor allem der Erste Weltkrieg ein Stück weit das, was im späten 19. Jahrhundert gewissermaßen entstanden, aber noch nicht definitiv abgearbeitet ist, lösen sollte. Um 1900 herum ist in Europa der Nationalstaat vollständig ausgebildet mit entsprechend hoher Aggressivität, aber noch schafft er es bis 1913, diese Aggressivität in die europäischen Randbereiche abzudrängen - entweder auf den Balkan, dort wurde schon immer Krieg geführt, Serbien ist dafür das zentrale Beispiel - oder nach Übersee, vor allem nach Afrika. Dort waren die Konflikte der europäischen Nationalstaaten am turbulentesten.
1914 ist das nicht mehr möglich, der Konflikt spielt sich im Zentrum Europas ab und deswegen sieht es dann 1918 anders aus als hundert Jahre früher. Der Erste Weltkrieg endet mit einer deutschen Niederlage, aber sie bleibt militärisch verdeckt ("Dolchstoßlegende" ist das Stichwort), das heißt, viele zeitgenössische Beobachter in Deutschland und außerhalb haben den Eindruck, der Konflikt sei letzten Endes immer noch unentschieden, Deutschland habe keine richtige Niederlage erlitten. Umso eher werden die Friedensbedingungen und die Rede von der Kriegsschuld usw. als eine Beleidigung des deutschen Nationalstaates wahrgenommen und führen zu einer Woge der Mobilisierung nationaler Emotionen. Und damit komme ich zum zweiten Teil dessen, was ich über die Aggressionen noch zu sagen habe. Der Nationalstaat ist gekennzeichnet durch Tradition, durch Partizipation und Aggression, aber die Aggression richtet sich nicht nur nach außen - darauf habe ich mich bisher beschränkt -, sondern auch nach innen. Das heißt, die Angehörigen des Nationalstaats, nicht nur seine Repräsentanten und seine Theoretiker, waren und sind immer noch zum Teil der Meinung, eine Nation ist nur dann eine Nation, wenn sie homogen ist. Sie muss also, oder sie soll jedenfalls, homogen werden, und das erzeugt enorme Spannungen im Inneren dieser Gesellschaft. Da gibt es nun alte innere Feinde. Von einem war schon die Rede, nämlich von den religiösen Spaltungen der Nation . Ein Glaube, eine Konfession, das war die alte Regel, die schon zu den Religionskriegen in der Frühen Neuzeit geführt hat. Da lernte man zunächst, unter dem Stichwort Toleranz einen Modus vivendi zu finden, Das bricht aber im frühen 19. Jahrhundert wieder auf, weil jetzt anders als vorher Papsttum und Katholizismus ihren internationalen Charakter plötzlich herausstreichen aus Gründen, auf die man nicht eingehen muss. Aber wenn ich sage, Papsttum und Katholizismus streichen ihren internationalen Charakter heraus, dann heißt das natürlich im Klartext, dass alle, die von der Homogenität der Nationen träumen, im Katholizismus anders als im Protestantismus, der immer national verfasst ist, einen natürlichen Feind sehen. Daher wird im 19. Jahrhundert in vielen Staaten Europas der Katholizismus als national unzuverlässig bekämpft.
Das zweite ist: Die Sprache wird zum Konfliktgrund. Die Franzosen führen ab 1793 einen Krieg gegen alle Minderheitensprachen, gegen das Flämische, gegen das Deutsche im Elsass, gegen das Okzitanische im Süden und sagen: Alle, die nicht Französisch sprechen, sind Verbündete der feudalen Monarchie und kommen aufs Schafott. Wir kennen eine Reihe von Todesurteilen, die nur gegen Angehörige sprachlicher Minderheiten mit dem Vorwurf, "Ihr seid Feinde der Nation", ausgeführt worden sind.
Anderes Beispiel: Die Belgier. Wie ich ja eben schon sagte, haben sie sich 1830 im Wege eines Aufstandes von den Niederländern befreit. Damit waren nicht alle Probleme gelöst, denn wir wissen ja, wie Belgien bis heute zusammengesetzt ist: aus einem flämischen und französischen Landesteil. Das Flämische ist zunächst einmal radikal diskriminiert worden, die Amtssprache war bis in die 1970er Jahre das Französische. Wer kein Französisch sprach, konnte in diesem Belgien eigentlich nicht erwarten, irgendeine bedeutende Position zu erlangen. Die Schulen waren französisch, das Gerichtssystem, die Verwaltung, alles war französisch, das heißt die flämische Sprache galt als bäuerlicher Dialekt, sie musste an den Rand gedrängt werden und im flämischen Landesteil sprach mindestens die Elite selbstverständlich Französisch. Diese Form von Sprachphobie gab es also auch.
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kamen neue Feinde zur Religion, zur Sprache hinzu, nämlich Weltanschauungen. Die Arbeiterklasse entstand im Zuge der Industriellen Revolution und war zwar an sich gar kein Integrationsproblem, aber da Teile der Arbeiterklasse einer Theorie anhingen namens Sozialismus, die sich bewusst international gab, die sagten:"Wir sind Brüder, international und die Nationalstaaten sind aus unserer Sicht historisch überholt", war logischerweise im Umkehrschluss in den Augen aller Vertreter der Nation ein Angehöriger der Arbeiterbewegung - nicht der Arbeiterschaft, sondern der Arbeiterbewegung, ob Sozialist oder Kommunist spielt gar keine Rolle, - ein Feind der Nation und wurde entsprechend bekämpft. Und wir wissen ja, in Deutschland, im Kaiserreich gab es eine ganze Reihe von Diskriminierungsgesetzen bis 1890, um die Sozialdemokratie zu unterdrücken, und Polizei, um sie zu überwachen, und auch nachdem diese Gesetze aufgehoben waren, besaß man als Sozialdemokrat nicht wirklich Chancen, in die Eliten aufzurücken. Das war erst in der Weimarer Republik möglich. Sie konnten als Sozialdemokrat noch nicht einmal Beamter werden.
Zum Sozialismus kommt noch das dritte, das problematischste Konfliktfeld hinzu, die Juden. Die Juden wurden nun plötzlich als innerer Feind entdeckt, weil sie, kurz gesagt, als einer anderen Rasse zugehörig erklärt wurden. Ein ganz komplizierter Vorgang, auf den ich nicht näher eingehen kann. Der Staat hat da zunächst einmal nicht wirklich mitgemacht, er hat ja sogar im Gegenteil von 1800 an schrittweise die rechtliche Diskriminierung der Juden abgebaut, definitiv abgeschafft 1869, aber die nicht minder wichtige gesellschaftliche Diskriminierung der Juden war damit keineswegs zu Ende. Sie konnten als Jude kein Richter werden, kein hoher Beamter, kein General, Minister sowieso nicht (der erste Richter jüdischen Glaubens im Großherzogtum Hessen wurde, glaube ich, 1905 oder 1911 ernannt). Als gläubiger Jude - wenn sie konvertiert sind, war der Fall erledigt, jeden falls für die traditionellen Nationalisten, für den modernen Rassisten natürlich nicht. So wurden also die Juden weiterhin als innerer Feind angesehen. Und diese Diskriminierungen wurden in Krisen immer wieder verstärkt. So viel zu 1918.
Nach 1918 kam eine ganze Reihe weiterer Probleme hinzu, die ich jetzt nicht mehr näher ausführen kann. Zu ihnen zählt, dass Deutschland 1918 in den Augen vieler nur deshalb verloren hat, weil der innere Feind mit dem "Dolchstoß in den Rücken" das Heer geschwächt hat. Dass er verantwortlich ist für so etwas "Undeutsches" wie Demokratie, dass die Monarchen abdanken mussten usw. usw.
Ich mache nun aus Zeitgründen einen Sprung zu 1945, um auf die Lerneffekte zu kommen, die nach 1945 offensichtlich beherzigt worden sind (es gelingt gelegentlich, aus offensichtlichen Fehlern in der Geschichte zu lernen). Es wurden zwei Dinge als Problem erkannt auf internationaler Ebene, auf deutscher sicherlich auch. Nämlich erstens, dass das europäische Staatensystem 1648 - Sie erinnern sich - darin bestand, dass ein Hegemon verhindert wird durch das Zusammenstehen der potentiell Unterlegenen, dass dieses System nicht wieder errichtet worden ist, und zweitens, dass der Nationalstaat vor allem in entscheidender Weise geschwächt werden musste durch eine Reihe von Maßnahmen, die ich nur stichwortartig aufführen möchte. Auf internationalem Gebiet hat man - und das sehen Sie jetzt auf Seite 1 - sich gesagt, wir machen es nicht wie 1918: Deutschland muss bedingungslos kapitulieren, es muss niedergerungen werden bis zum Schluss, es kommt nur eine Besetzung, und zwar eine dauerhafte Besetzung in Frage. Der Fehler war aus unserer, der westlichen Sicht, dass wir 1918 den Deutschen zu viele Möglichkeiten gelassen haben, obwohl sie den Krieg verloren haben. Und diese Möglichkeiten werden sie jetzt nicht mehr bekommen. Also: totale Niederlage, " unconditional surrender ", und dauerhafte Besatzung.
Zweitens sagte ich gerade, wurde das europäische Staatensystem - in der Regel sind es fünf Mächte - nicht wieder hergestellt. Dazu waren die Staaten gar nicht in der Lage. Frankreich sitzt zwar in der Potsdamer Konferenz als Siegermacht am Tisch, aber an sich war das lächerlich: im August 1944 mit alliierter Hilfe befreit. De Gaulles Figur in Ehren, aber Frankreich zählte sicherlich, militärisch gesehen, nicht zu den Siegern. Selbst die Engländer hätten es ja alleine nicht geschafft. 1945 war es deswegen einfach so, dass die beiden Flügelmächte, Amerikaner und Russen, sich verständigt haben, in Europa ihre Interessenssphären festzulegen und abzugrenzen durch das, was dann alsbald schon "Eiserner Vorhang" hieß, und sich von da an gegenseitig in Schach hielten, schon sehr bald mit der Atombombe.
Das war nicht schön, aber friedlich und insofern hat es zumindest dem Westen, der die Freiheit der Amerikaner genossen hat, durchaus geholfen. Das ist also das zweite auf internationaler Ebene. Totale Niederlage, kein altes Staatensystem mehr und dann das dritte, die Nationalstaatsidee. Die Nationalstaatsidee wurde in puncto Deutschland ganz offensichtlich nicht wiederbelebt: Deutschland war eben keine Nation ab 1945 mehr, es war ein gespaltenes Land, es gab wenigstens zwei Nationen und der Ersatz sollte sein - und deswegen waren die Deutschen so und sind es zum Teil unentwegt bis zum heutigen Tag - so lebhaft für ein vereintes Europa. Ein Europa, das jetzt nicht nur als irgendeine nostalgische Idee, sondern als konkretes politisches Projekt nach 1945 implementiert worden ist. Die Amerikaner begannen schon beim Marshall-Plan, also der Wiederaufbauhilfe, und sagten: Ihr kriegt in Europa von uns nur Geld, wenn ihr euch vorher auf europäischer Ebene einigt und ihr müsst - das war 1947 ein Skandal in den Augen der anderen, die sich natürlich immer noch als Nationalstaaten und Sieger betrachteten - die Deutschen hinzunehmen.
Insofern wird relativ früh aus der Kulturidee Europa, aus diesem nostalgischen Projekt ein politisches Projekt, das, um es nochmals zu sagen, hier in Deutschland als Ersatz für den untergegangenen Nationalstaat eine sehr viel größere Anhängerschaft bekam als bei unseren Nachbarstaaten. Warum haben die Deutschen so bereitwillig gelernt? Erstens waren die politisch-gesellschaftlichen Eliten weitgehend tot, teils gefallen, teil umgebracht im Zuge des 20. Juli 1944, denn der 20.Juli war ja nichts anderes als der Versuch der klassischen, traditionellen Eliten, Hitler im letzten Moment in den Arm zu fallen. Er ist kein Vorläufer der Bundesrepublik, man muss es immer wieder sagen. Es waren honorige Menschen, die mit ihrem Leben eingestanden sind, aber Demokraten waren ausgesprochen selten darunter. Das ist die bittere Wahrheit. Hunderte, hunderte, und eben gerade Elitenangehörige, wurden nach dem 20.Juli umgebracht, andere waren aus dem Osten vertrieben und enteignet, also die klassische Elite war weitgehend eliminiert. Die nationalsozialistische Führung hat sich im März, April, Mai 1945 im Wesentlichen selbst umgebracht, (das tat ja nicht nur Adolf Hitler, es ging herunter zum Beispiel bis zum Darmstädter Oberbürgermeister Wambold), und dadurch war natürlich ein erheblicher Teil der politisch aktiven Nationalsozialisten ausgeschaltet oder hat sich selbst ausgeschaltet und konnte künftig ebenfalls keine große Rolle mehr spielen. Dann hat die Mehrheit der Deutschen natürlich erkennen müssen, dass der Nationalsozialismus die falsche Wahl war, denn was er angerichtet hat, war ja wohl nicht zu übersehen angesichts der darniederliegenden Städte, Millionen auf der Flucht etc. Und hinzu kam die Kombination aus Bestrafung, aus Erziehung zur Demokratie und natürlich aus dem Demonstrationseffekt, der vor allem von den jungen amerikanischen Soldaten ausging. Um jetzt nur populäre Stichworte zu nennen wie Kaugummi oder Jazzmusik oder Glenn Miller: Das waren Dinge (und wir hatten hier in diesem Hause am Dienstag noch eine Versammlung von Zeitzeugen, die genau das erzählt haben, dass ihnen das als Kinder unendlich wichtig war und sie überzeugte. Wir versuchen es mit den Amerikanern und auf die amerikanische Weise), die einen enormen Beitrag zur kollektiven Abkehr Millionen Deutscher von den unseligen, diskreditierten Traditionen des Nationalstaats geleistet haben. Auch der lockere Umgang mit Vorgesetzten hat den Deutschen enorm imponiert: die Autorität anerkannt, aber nicht mit Händen an der Hosennaht, sondern eben mit einer inneren Akzeptanz. So viel zur Frage, warum es nach 1945 so ganz anders gegangen ist als nach 1918.
Was ist nun das Ergebnis des Ganzen? Man könnte es mit der Dahrendorf-These auf den Satz bringen, dass der Nationalsozialismus durch seine Radikalität, durch das brutale, von ihm ausgelöste Ende, es unmöglich gemacht hat, dass es in Deutschland erneut einen Nationalsozialismus gibt. Weder die gesellschaftlichen Gruppen, die man dazu braucht, noch die Denkhaltungen, die dazu nötig sind, sind seit 1945 in irgendeiner Form mehrheitsfähig. Aber erhalten geblieben sind, leider Gottes, unvermeidlicher Weise, Restbestände des Nationalstaats auch in Bezug auf dieses Homogenitätsverlangen und dieses Homogenitätsversprechen und diese Gedankenkonstrukte bedrohen durchaus unsere Gesellschaft in der Gegenwart. Ob es der neue Antisemitismus ist, ob es der Antiislamismus ist, ob es die allgemeine Ausländerfeindlichkeit ist: In Wellen lässt sich das feststellen und 2014 gibt es keinen Zweifel; gestern sahen wir in den Nachrichten die Kriminalstatistik, die das alles noch einmal untermalt hat. Das ist jederzeit abrufbar und insofern müssen wir tatsächlich wachsam sein, um diese Reste des nationalstaatlichen Denkens künftig unter Kontrolle zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie sich erledigt haben im Interesse eines Europas, das die demokratischen Bedürfnisse der Menschen besser bedient als das gegenwärtige Europa.
Das sind die Lehren.
Vielen Dank.